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   miteinander
soziales
Der Rastlose kommt zur Ruhe
Auch wenn er vor allem den französischsprachigen Mitbürgern ein Begriff sein dürfte, ganz unbekannt ist Jean Hermesse den Ostbelgiern sicherlich nicht, denn auch hier hat er einige Male in die gesundheitspolitische Debatte eingegriffen. Der bisheri- ge Generalsekretär der Christlichen Krankenkasse (CKK) ist ein Mann der offenen Worte und scheut keine Auseinanderset- zung, doch überrascht er immer wieder auch durch konstruk- tive Lösungsvorschläge. Er hat unter anderem die solidarische Krankenhausversicherung Hospi-Solidar – die einzige ihrer Art in Belgien – ins Leben gerufen. In diesem Sommer hat Jean Her- messe das Rentenalter erreicht, aber sein Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Wohlbefinden und Gesundheit aller Menschen, die in unserem Land leben, wird mit Sicherheit weitergehen. Die CKK wünscht ihrem langjährigen Vorsteher alles Gute und widmet ihm das folgende Porträt.
Die Glasfassade des Aeropolis gleicht der Fassade der Uniklinik Saint-Luc in Brüssel. Mit seinen vier Flügeln in Form eines Kreuzes war das Gebäude, in dem der Landesbund der Christlichen Kran- kenkassen seinen Sitz hat, ursprünglich als Krankenhaus gedacht. Sein Büro im sechsten Stock bietet Jean Hermesse eine Aussicht auf den Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. In den achtziger Jahren sah ein nationaler Plan die Schaffung von 6500 Kranken- hausbetten vor. Die Räumlichkeiten, in denen heute die Christ- liche Krankenkasse CKK, die Christliche Gewerkschaft CSC und die Christliche Arbeiterbewegung MOC/CAB und ihre nieder- ländischsprachigen Kollegen untergebracht sind, waren ursprünglich Teil dieses Bettenplanes. Zufällig ist der Mann, der sich gegen die Öffnung dieser Betten ausgesprochen hat, kein anderer als ein gewisser ... Jean Hermesse.
 Berater von Jean-Luc Dehaene
Seinerzeit arbeitete er im Büro des damaligen Gesundheitsmi- nisters Jean-Luc Dehaene, den er „für seinen Sinn für das All- gemeinwohl“ bewunderte. Der junge Berater witterte den finanziellen Abgrund und überzeugte den Minister, trotz der Unbeliebtheit der Maßnahme, seine Entscheidung zu überden- ken. „Die Kosten für den Bau eines Krankenhauses sind kaum so hoch wie zwei Jahre Betriebskosten. Heute hätten wir 300 unbezahlbare Krankenhäuser zu viel“, verteidigt er sich stolz. „Wir haben die Betten nicht geschlossen, um Geld zu sparen, sondern im Interesse einer bedarfsgerechten Politik. Es gab keine Altenpflege in entsprechenden Einrichtungen. Das Geld, das wir an dieser Stelle eingespart haben, stand uns schließlich zur Verfügung, um Pflegeheimbetten zu eröffnen, was damals ein neues Konzept war“.
Langfristiges Denken ist eines seiner Leitmotive. In einem Sektor, in dem mit den Ressourcen sparsam umgegangen werden muss, ist er davon überzeugt, dass Investitionen in die Prävention der kosteneffektivste Weg sind, um die Gesundheit zum Nutzen aller zu verbessern: „Die Vorstellung, dass die Gesundheit sich durch höhere Ausgaben verbessert, hält sich hartnäckig. Aber dieses Geld steht dann nicht für Bildung, Wohnraum, Ernährung oder Mobilität zur Verfügung, die allesamt einen entscheiden- den Einfluss auf die Gesundheit und das allgemeine Wohlbefin- den haben“.
Statistiken, Indikatoren, Jahresabschlüsse und Bilanzen bergen für Jean Hermesse keine Geheimnisse. Als Wirtschaftsstudent widmete Jean Hermesse seine Abschlussarbeit der Gesund-
heitsökonomie, die an belgischen Universitäten damals noch in den Kinderschuhen steckte. Er hatte das Glück, seinen Militär- dienst in einem Ministerkabinett zu leisten, wo er sich an Bud- gets abarbeitete. Im Jahr 1988 trat er der CKK als Direktor der Forschungsabteilung bei. 1994 wurde er Nationalsekretär und trat 2007 die Nachfolge von Edouard Descampe als Generalse- kretär an. „Er kämpft für den Patienten, für den Zugang zu qua- litativ hochwertiger Versorgung für alle, gegen die Kommer- zialisierung des Gesundheitswesens und die Zwei-Klassen-Medi- zin. Er verteidigt diese Ansichten, nicht weil sie Teil seiner Arbeit sind. Vielmehr handelt es sich um tiefe innere Überzeugungen. Jean kämpft wie ein echter Aktivist für die Gegenseitigkeitsbe- wegung“, resümiert ein Arzt des medizinischen Dienstes der Krankenkasse, um nur ein Beispiel zu nennen.
© M. Cornélis
 4| MITEINANDER 4/2020

Ob er nun die unverschämten Profite und skandalösen Praktiken der Pharmaindustrie anprangert, die Undurchsichtigkeit der Preise für Brillen oder Zahnprothesen, den übermäßigen Medi- kamentenkonsum, die kommerzielle Mentalität, die sich der Ärzteschaft bemächtigt, oder ganz allgemein die gesundheitli- chen Ungleichheiten, Jean Hermesse jongliert mit Zahlen, um seine Werte - nämlich gegenseitige Hilfe und Solidarität - zu verteidigen. Diese Zahlen weiß er auf brillante Weise einzuset- zen, um zu beweisen, anzuprangern, aber vor allem Vorschläge einzubringen. „Ideen regieren die Welt. Sie öffnen Horizonte. Mit Ideen und Überzeugungen kann man Berge versetzen“ ver- teidigt er sich gerne in dem einen oder anderen Interview. „Es reicht nicht aus, empört zu sein und zu sagen, dass alles die Schuld der neoliberalen Globalisierung sei. Nein, der Kampf ist nicht von vorherein verloren“, fährt der Gesundheitsaktivist fort, der gerne den verstorbenen Dirk Van Duppen als Beispiel anführt. Als Pionier im Kampf gegen die Umweltverschmutzung erreichte diese emblematische Figur der Volksmedizin die Ein- stellung eines Autobahnprojekts in Antwerpen. Er ist auch der Verfechter des Kiwi-Modells, eines von Neuseeland inspirierten Mechanismus, der es ermöglichen sollte, die Arzneimittelpreise zu senken, indem die Rückerstattung an vorherige Ausschrei- bungen geknüpft wird.
Die Verteidigung der Sozialen Sicherheit
 



















































































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