Kinder und Jugendliche in der Pandemie

Orientierung wiederfinden

Zwei Jahre dauert die Corona-Krise inzwischen an. Vor allem Kinder und Jugendliche verlieren in diesem schwierigen Umfeld die Orientierung. Dies äußert sich in einem Anstieg der psychischen Störungen bei den 0- bis 17-Jährigen: Ticks, Phobien, Schulabbrüche, Essstörungen, Selbstmordversuche... Kinderpsychiater schlagen Alarm. Die Sorge wird von der CKK geteilt – kürzlich hat sie eine Studie zu diesem Thema veröffentlicht.

Im März 2020 wird wegen der Covid-19-Pandemie in Belgien der erste Lockdown verhängt. Millionen Kinder und Jugendliche dürfen nicht mehr zur Schule, fühlen sich zuhause eingesperrt. Die Maßnahmen hatten weitreichende Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden. Doch laut Sophie Maes, Kinderpsychiaterin am „Centre hospitalier le Domaine“ der ULB verdeckten die kurze Dauer der strengen Einschränkungen, die Sommerferien und die Hoffnung auf Rückkehr zum normalen Leben ab Herbst teilweise die psychologischen Auswirkungen auf junge Menschen.

Im November 2020 kommt dann der zweite Lockdown. Wie Verantwortliche der kinderpsychiatrischen Abteilung des Brüsseler „Hôpital universitaire des enfants Reine Fabiola“ (HUDERF) feststellten, kamen nun zu der allgemeinen Gesundheitsnotlage das oftmals schwierige Zusammenleben im Homeoffice sowie in vielen Familien eine finanzielle Schieflage hinzu. Erfreulicherweise blieben die Schulen geöffnet – für viele Kinder und Jugendliche einer der wenigen Orte, wo sie soziale Kontakte pflegen können.
Doch die Uhr tickte. Dazu die Mitarbeiter des HUDERF: „Ende Februar 2021 war bereits ein Drittel unserer Betten von Jugendlichen unter 13 Jahren in Langzeit-Behandlung wegen anorektischen Essstörungen belegt. Unsere Notaufnahme-Betten waren ständig ausgelastet: Suizid-Versuche, Selbstverletzungen, Familienkrisen, Depressionen, Angst-Attacken usw.“

Mit den Impfungen und weniger schweren Krankheitsverläufen konnten die Einschränkungen gelockert werden. Ein neuer Lockdown ist vorerst nicht zu befürchten. Doch die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen bleibt fragil.

Besorgniserregend

2021 hat die CKK untersucht, wie sich die psychische Gesundheitsfürsorge ihrer Mitglieder unter 18 Jahren bis Juni desselben Jahres entwickelte(1). Die Ergebnisse der Studie sind besorgniserregend: Deutlich mehr junge Menschen wurden mit psychischen Problemen ins Krankenhaus eingeliefert; bei der Belegung der psychiatrischen Betten durch diese Altersgruppe wurde sogar ein Rekordwert erreicht. Die Zahl der Jugendlichen in den Notaufnahmen für eine psychiatrische Behandlung nahm ebenfalls zu. „Dies könnte darauf hinweisen, dass während des Lock-downs zurückgestellte Behandlungen nachgeholt wurden“, so schlussfolgert die Vizepräsidentin der CKK-MC Elisabeth Degryse.

Die exponentiell angestiegene Zahl von Notfällen überlastet das Versorgungsnetz. Hinzu kommt ein weiterer schwerwiegender Aspekt: der ungleiche Zugang zur kinderpsychiatrischen Versorgung. Wie die Studie aufzeigt, wiegen die Folgen der Pandemie für Jugendliche aus einem schwachen sozio-ökonomischen Umfeld schwerer als für den Durchschnitt dieser Alters­klasse. Auch nehmen sie weniger häufig ambulante Behandlungen in Anspruch als Gleichaltrige aus besser situierten Familien, obwohl dies im Frühstadium einen Ausweg bieten kann.

Wird das Nachlassen der Pandemie die Situation junger Menschen mit psychischen Problemen verbessern? Das ist laut Prof. Emmanuel De Becker, Kinder- und Jugendpsychiater an den „Cliniques Saint-Luc“ der UCLouvain, kein Selbstläufer: „Zum überwiegenden Teil hatten die jungen Menschen keine Angst vor dem Virus. Berührt hat sie eher, diese Angst in den Gesichtern der Erwachsenen zu sehen. Heute führt die schwierige sozio-ökonomische Lage zu neuen Ängsten in den Familien, die sich auf die Jüngsten übertragen.“

Nach Ansicht von Rédouane Boukhari, Koordinator von Bru-Stars, einem Brüsseler Netzwerk für psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, werden die kinderpsychiatrischen Abteilungen etwas durchatmen können, wenn die Pandemie vorüber ist. „Aber die Traumata werden nicht wie von Zauberhand verschwinden. Am wichtigsten für diese jungen Menschen in Not wird es sein“, so Boukhari, „dass sie wieder einen Sinn in ihrer Existenz finden“.

Quelle: En Marche Nr. 1687, Autor: Julien Marteleur

(1) „Beunruhigende Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“, siehe ckk-mc.be (Rubrik „Unsere Pressemitteilungen“)