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  Aus Lähmung wird Antrieb
Wie Angst zum Motor unseres Handelns werden kann
miteinander
 Coronakrise, Krieg in der Ukraine, Klimawandel... Nachrichten haben schon etwas Beunruhigendes. Was aber, wenn das Enga- gement für eine nachhaltigere und solidarischere Gesellschaft uns angesichts dieser beängstigenden Nachrichten einen heil- samen Schub verleihen könnte?
„Hallo, bin ich hier der Einzige, der sich eine kleine Pause zwi- schen dem Ende der Pandemie und dem Beginn des Dritten Weltkriegs gewünscht hätte?“ So weit ist es glücklicherweise noch nicht gekommen, aber diese überspitzte Formulierung sagt viel über das derzeit vorherrschende Klima aus...
Nach zwei Jahren steigender und rückläufiger Fallzahlen und Virusvarianten weckt die Rückkehr des Krieges vor den Toren Europas die Dämonen einer Vergangenheit, die wir für über- wunden hielten. Wie gehen wir mit dieser Flut an beängstigen- den Nachrichten um?
 Früherallesbesser...?
Auch die Entwicklung der Medienlandschaft ist diesem angst- besetzten Klima zuträglich. Zu Zeiten des Kalten Krieges oder der Katastrophe von Tschernobyl wurden die Nachrichten von regelmäßigen Terminen bestimmt. Das Radio, das man in der Küche einschaltet, die Tageszeitung, die man auf dem Früh- stückstisch aufschlägt, die Nachrichten, die man abends mit der Familie anschaut. Die Welt war zweifellos nicht weniger beun- ruhigend, aber wir erhielten zwischendurch keine Benachrich- tigungen, die uns ständig daran erinnerten! „Die stetige Infor- mationsflut gönnt uns keine Verschnaufpause - wir fühlen uns extrem hilflos angesichts dieses ständigen Stroms an Emotionen ohne Kontextualisierung“, kommentiert der französische Psy- chiater und Psychoanalytiker Serge Tisseron.
 Abschalten-unddann?
In einer Zeit der Informationsüberflutung ist es für die Medien zu einer Frage des wirtschaftlichen Überlebens geworden, Auf- merksamkeit zu erregen. Das Spiel mit Emotionen, Ängsten und Skandalen ist oft ein Erfolgsrezept, um Zuschauer zu gewinnen. Die Einrichtung von Zeitfenstern, in denen man sich ausloggen kann, die Deaktivierung von Benachrichtigungen und die Bevor- zugung von Medien mit Hintergrundberichten sind Strategien, die uns helfen können, das Angstniveau zu senken. Aber die Krisen werden nicht wie von Zauberhand verschwinden, indem wir die Pausentaste drücken.
Abgesehen von der individuellen Verarbeitung aktueller Ereig- nisse, ist es ein ganz normales Gefühl, Angst zu haben. Wir leben in einer sich verändernden Welt und Ungewissheit ist eine Quelle der Angst, der gegenüber wir nicht alle gleichermaßen gewappnet sind. Abhängig von unseren Erfahrungen, Ressour- cen und Empfindlichkeiten können wir davon so stark betroffen sein, dass wir unter einer Form von täglichem Unwohlsein, Schlaflosigkeit oder sogar Depressionen leiden.
Dank der Fortschritte in der Neurowissenschaft sind die Mecha- nismen der Angst heute gut dokumentiert. Ebenso wie die Stra- tegien, mit denen man sie lindern kann. Die Vorteile von Medita- tion, körperlicher Aktivität, Kontakt mit der Natur und sozialen Bindungen sind wissenschaftlich erwiesen. Die Neurowissen- schaft vermittelt uns die Botschaft, dass Angst unsere Persön- lichkeitsentfaltung auch begünstigen kann.
Angst, seit Urzeiten Teil unseres Verhaltens, ist überlebenswich- tig, so die amerikanische Neurowissenschaftlerin Wendy Suzuki in ihrem neuesten Buch „Anxiety is Your Superpower“ (dt. „Angst ist deine Superkraft“). Wenn wir lernen, Angst als Warn- signal zu betrachten und sinnvoll zu nutzen, wird dieses Signal uns helfen, uns sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene zu verändern.

Änderung des Konsumverhaltens, politisch aktiv werden, Ehren- amt, humanitäres Engagement, Umweltschutz... Sich zu enga- gieren kann helfen, unsere Situation und die des Planeten zu verbessern. Eine von zehn Personen soll unter „Öko-Angst“ lei- den, wie laufende Arbeiten der UCLouvain (Katholische Univer- sität Löwen zeigen. In einem Interview mit dem National Geo- praghic verteidigt Véronique Lapaige, Ärztin und Forscherin im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die Öko-Angst „nicht nur als Problem, sondern auch als Motor, um etwas zu verändern“.
Die Journalistin Laure Noualhat verfiel in eine Klimadepression, weil sie immer wieder über das Thema schrieb. Ein Gefühl, das sie überwinden konnte, indem sie sich mit Experten, Aktivisten und Politikern traf, die ihre Angst durch Handeln überwinden konnten. „Unsere Emotionen sind lebenswichtig, sie wappnen uns für zahlreiche Kämpfe, aber wir dürfen uns nie von ihnen überwältigen oder zerfressen lassen. Wut sagt uns, dass die Welt ungerecht ist, Trauer, dass wir etwas Lebenswichtiges verlieren, Angst, dass es an der Zeit sein könnte, sich aufzuraffen; und Ohnmacht, dass es zu spät ist, um Angst zu haben. Jede enthält eine Kraft, die wir nutzen können“.
Ehrenamtlicher Einsatz
hilft gegen Angst
MITEINANDER 3/2022 |9
  gesundheit
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