Page 9 - Miteinander_1_2022
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  Orientierung wiederfinden
Kinder und Jugendliche in der Pandemie
Zwei Jahre dauert die Corona-Krise inzwischen an. Vor allem Kinder und Jugendliche verlieren in diesem schwierigen Umfeld die Orientierung. Dies äußert sich in einem Anstieg der psychi- schen Störungen bei den 0- bis 17-Jährigen: Ticks, Phobien, Schulabbrüche, Essstörungen, Selbstmordversuche... Kinder- psychiater schlagen Alarm. Die Sorge wird von der CKK geteilt – kürzlich hat sie eine Studie zu diesem Thema veröffentlicht.
Im März 2020 wird wegen der Covid-19-Pandemie in Belgien der erste Lockdown verhängt. Millionen Kinder und Jugendliche dürfen nicht mehr zur Schule, fühlen sich zuhause eingesperrt. Die Maßnahmen hatten weitreichende Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden. Doch laut Sophie Maes, Kinderpsy- chiaterin am „Centre hospitalier le Domaine“ der ULB verdeck- ten die kurze Dauer der strengen Einschränkungen, die Som- merferien und die Hoffnung auf Rückkehr zum normalen Leben ab Herbst teilweise die psychologischen Auswirkungen auf junge Menschen.
Im November 2020 kommt dann der zweite Lockdown. Wie Ver- antwortliche der kinderpsychiatrischen Abteilung des Brüsseler „Hôpital universitaire des enfants Reine Fabiola“ (HUDERF) fest- stellten, kamen nun zu der allgemeinen Gesundheitsnotlage das oftmals schwierige Zusammenleben im Homeoffice sowie in vielen Familien eine finanzielle Schieflage hinzu. Erfreulicher- weise blieben die Schulen geöffnet – für viele Kinder und Jugendliche einer der wenigen Orte, wo sie soziale Kontakte pflegen können.
Doch die Uhr tickte. Dazu die Mitarbeiter des HUDERF: „Ende Februar 2021 war bereits ein Drittel unserer Betten von Jugend- lichen unter 13 Jahren in Langzeit-Behandlung wegen anorek- tischen Essstörungen belegt. Unsere Notaufnahme-Betten waren ständig ausgelastet: Suizid-Versuche, Selbstverletzun- gen, Familienkrisen, Depressionen, Angst-Attacken usw.“
Mit den Impfungen und weniger schweren Krankheitsverläufen konnten die Einschränkungen gelockert werden. Ein neuer Lockdown ist vorerst nicht zu befürchten. Doch die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen bleibt fragil.
 Besorgniserregend
2021 hat die CKK untersucht, wie sich die psychische Gesund- heitsfürsorge ihrer Mitglieder unter 18 Jahren bis Juni desselben Jahres entwickelte(1). Die Ergebnisse der Studie sind besorgni- serregend: Deutlich mehr junge Menschen wurden mit psychi- schen Problemen ins Krankenhaus eingeliefert; bei der Bele- gung der psychiatrischen Betten durch diese Altersgruppe wurde sogar ein Rekordwert erreicht. Die Zahl der Jugendlichen in den Notaufnahmen für eine psychiatrische Behandlung nahm ebenfalls zu. „Dies könnte darauf hinweisen, dass während des Lock-downs zurückgestellte Behandlungen nachgeholt wur- den“, so schlussfolgert die Vizepräsidentin der CKK-MC Elisa- beth Degryse.
Die exponentiell angestiegene Zahl von Notfällen überlastet das Versorgungsnetz. Hinzu kommt ein weiterer schwerwiegen- der Aspekt: der ungleiche Zugang zur kinderpsychiatrischen Versorgung. Wie die Studie aufzeigt, wiegen die Folgen der Pandemie für Jugendliche aus einem schwachen sozio-ökono- mischen Umfeld schwerer als für den Durchschnitt dieser Alters- klasse. Auch nehmen sie weniger häufig ambulante Behandlun- gen in Anspruch als Gleichaltrige aus besser situierten Familien, obwohl dies im Frühstadium einen Ausweg bieten kann.
Wird das Nachlassen der Pandemie die Situation junger Men- schen mit psychischen Problemen verbessern? Das ist laut Prof. Emmanuel De Becker, Kinder- und Jugendpsychiater an den „Cliniques Saint-Luc“ der UCLouvain, kein Selbstläufer: „Zum überwiegenden Teil hatten die jungen Menschen keine Angst vor dem Virus. Berührt hat sie eher, diese Angst in den Gesichtern der Erwachsenen zu sehen. Heute führt die schwierige sozio- ökonomische Lage zu neuen Ängsten in den Familien, die sich auf die Jüngsten übertragen.“
Nach Ansicht von Rédouane Boukhari, Koordinator von Bru- Stars, einem Brüsseler Netzwerk für psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, werden die kinderpsychiatrischen Abteilungen etwas durchatmen können, wenn die Pandemie vorüber ist. „Aber die Traumata werden nicht wie von Zauber- hand verschwinden. Am wichtigsten für diese jungen Menschen in Not wird es sein“, so Boukhari, „dass sie wieder einen Sinn in ihrer Existenz finden“.
Quelle: En Marche Nr. 1687, Autor: Julien Marteleur
(1)„Beunruhigende Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesund- heit von Kindern und Jugendlichen“, siehe ckk-mc.be (Rubrik „Unsere Pres- semitteilungen“)
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